Von einem 10-jährigen Kind mit bestandener Radfahrprüfung kann erwartet werden, dass es die grundlegenden Verkehrsregeln einhält. Verschuldet es einen Unfall, kann es daher unter Umständen zur Haftung herangezogen werden. Das Verschulden eines Kindes muss jedoch nach strengeren Maßstäben als bei Erwachsenen geprüft werden.

 

Sachverhalt

Der beklagte Junge war zum Tatzeitpunkt zehn Jahre alt und hatte einige Wochen zuvor die freiwillige Fahrradprüfung bestanden. Er bog mit dem Fahrrad von einer Wohnanlage aus in die Straße ein, ohne auf den Verkehr zu achten. Dabei kollidierte er mit einem anderen Radfahrer. Diesen konnte der Junge aufgrund einer Hecke am Straßenrand nicht rechtzeitig wahrnehmen. Auch der Radfahrer hatte keine Möglichkeit, den Unfall durch Bremsen oder Ausweichen zu vermeiden.

Der Beklagte befand sich zum Zeitpunkt des Unfalls in einem erregten Gemütszustand. Einer seiner Freunde zog sich beim Fußballspielen eine blutende Wunde am Knie zu, daher nahm der Beklagte dessen Fahrrad, um dessen Mutter zu benachrichtigen.

Der klagende Radfahrer nahm mit seiner Schadenersatzklage nicht die Aufsichtspflichtigen des Jungen in Anspruch. Sie verletzten seiner Ansicht nach ihre Aufsichtspflicht nicht. Vielmehr begehrte der Kläger Schadenersatz vom Jungen selbst. Der Kläger berief sich dafür auf § 1310 1. Fall ABGB. Diese Bestimmung sieht ausnahmsweise eine Haftung von unmündigen Minderjährigen nach Billigkeitserwägungen vor. Voraussetzung ist, dass der unmündige Minderjährige sein Handeln und die daraus resultierenden Folgen verstehen und dementsprechend handeln könnte.

 

Rechtliche Beurteilung

Sowohl das Erst- als auch das Berufungsgericht kamen zur Entscheidung, dass den minderjährigen Beklagten das alleinige Verschulden für den gegenständlichen Unfall treffe. Da der Beklagte zum Unfallzeitpunkt jedoch erst 10 Jahre alt und damit unmündig war, sei der Ersatzanspruch des Klägers zu kürzen. Billigkeitserwägungen des Erstgerichts ergaben somit, dass der Beklagte für 50 % des entstandenen Schadens zu haften habe. Das Berufungsgericht korrigierte diesen Prozentsatz später auf 75 % nach oben.

Der Oberste Gerichtshof (OGH) hielt fest, dass bei der Haftung eines unmündigen Minderjährigen alle Umstände zu berücksichtigen seien. Prinzipiell könne von einem zehn Jahre alten Kind mit bestandener Radfahrprüfung erwartet werden, dass es sich beim Radfahren an die grundlegenden Verkehrsregeln hält. Dennoch gilt bei der Bewertung seines Mitverschuldens ein weniger strenger Maßstab als bei Erwachsenen.

 

Bei der Bewertung des Mitverschuldens seien sowohl das Alter, die psychische Belastung im Unfallzeitpunkt und die soziale Situation des Beklagten zu berücksichtigen. Aus all diesen Erwägungen kam der OGH zum Schluss, dass eine Haftung von 25 % der Billigkeit im Sinne des § 1310 1. Fall ABGB entspreche.

 

 

OGH 09.04.2015, 2 Ob 31/15w

 

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