Neues zum Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters

Das Verfahren vor dem Handelsgericht Wien dauerte mehr als 6 Jahre und führte zu zwei wichtigen Entscheidungen im Bereich des Handelsvertreterrechts. Erstmals wurde einer Kapitalgesellschaft in Österreich der Kündigungsgrund der “Krankheit” zugestanden. Zudem untersuchte das Gericht, wie viele Stammkunden einer Tankstelle weggingen, was zu überraschenden Ergebnissen führte.

Die Ausgangslage

Die Klägerin, eine GmbH, hatte einen Tankstellenpachtvertrag mit einer Mineralölgesellschaft abgeschlossen. Der Alleingesellschafter war zugleich auch Alleingeschäftsführer dieser GmbH. Im Treibstoffvertrieb war die GmbH als Handelsvertreterin tätig, während sie im Folgemarktbereich wie Shop, Gastro und Waschanlagen als Eigenhändlerin agierte und Produkte sowie Dienstleistungen unter eigenem Namen und auf eigene Rechnung verkaufte. Dafür zahlte sie eine Umsatzpacht an die Mineralölgesellschaft.

Eine Prüfung durch einen Experten ergab, dass der Geschäftsführer an Erschöpfungsdepression litt und aus gesundheitlichen Gründen seine Arbeit nicht fortsetzen konnte. Daher kündigte die Klägerin den Tankstellenpachtvertrag vorzeitig ohne Beachtung der Kündigungsfristen und übergab die Tankstelle an die Mineralölgesellschaft.

Das Gerichtsverfahren bezüglich Ausgleichsanspruch

Das Gericht musste entscheiden, ob die Klägerin einen Ausgleichsanspruch nach § 24 HVertrG hat. Sie war in das Vertriebssystem für den Treibstoff- und Folgevertrieb eingebunden, weshalb § 24 HVertrG analog angewendet werden sollte. Wichtige Bedingungen für den Ausgleichsanspruch sind das Gewinnen neuer Kunden oder das deutliche Erweitern bestehender Geschäftsverbindungen sowie das Fortbestehen gewisser Vorteile für den Geschäftspartner nach Vertragsende.

Im Zentrum des Verfahrens stand die Frage, ob der Vertrag ordnungsgemäß beendet wurde. Ein Handelsvertreter verliert seinen Ausgleichsanspruch, wenn er den Vertrag selbst gekündigt oder vorzeitig beendet hat, außer es liegen Gründe vor, die eine Fortsetzung unzumutbar machen, wie Krankheit oder Alter.

Entscheidung des Gerichts

Das Gericht bestätigte den Ausgleichsanspruch der Klägerin und erkannte den Kündigungsgrund der Krankheit an. In Österreich wurde diese Frage bis dato nicht gerichtlich geklärt. Das HG Wien stützte seine Urteilsbegründung explizit auf die Krankheit des Geschäftsführers. Bei einer “Ein-Mann-GmbH” würde der Ausgleichsanspruch auch bei einer Eigenkündigung nicht verloren gehen.

Abwanderungsquote der Stammkunden

Neben der Gewinnung neuer Stammkunden müssen die daraus resultierenden Vorteile für das Unternehmen erheblich sein. Zur Berechnung der Ausgleichszahlung braucht es eine Prognose über die Dauer der neuen Geschäftsbeziehungen. Bei Tankstellen wurde oft ein Prognosezeitraum von 4 oder 5 Jahren angenommen. Häufig ging man von einer Abwanderungsquote der Stammkunden von 20% pro Jahr aus.

Im vorliegenden Verfahren wurde eine umfassende Analyse der elektronischen Kassajournaldaten vorgenommen. Dabei wurde festgestellt, dass 73,10% der Stammkunden der Tankstelle seit Vertragsbeginn treu geblieben waren. Die konkrete Abwanderungsquote betrug nur 6,53% pro Jahr, was einen Prognosezeitraum von 15 Jahren ergab.

Schlussfolgerung

Die Entscheidung des Gerichts hat weitreichende Auswirkungen auf die rechtmäßige Kündigungsmöglichkeiten von Kapitalgesellschaften und die Berechnung der Ausgleichsansprüche bei Tankstellenpächtern. Anhand vorhandener Datenmaterialien sind präzisere Ergebnisse möglich, die über die bisherige Pauschaleinschätzung hinausgehen.

Publikation und Kontakt

Mehr zum Thema Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters finden Sie auf unserer Website für Vertriebsrecht. Dort erfahren Sie mehr über Ihre Rechte als Handelsvertreter oder Unternehmer. Wir können Ihnen bei rechtlichen Fragen weiterhelfen.

 

Publikation: ecolex 5/2024

 

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